Erst die Ruhe lässt den Sturm entstehen

Unser Leben ist laut. Ein strukturiertes Chaos.
Der Alltag eines jeden Menschen verläuft nach Schema F. Wenige, aber auf den ersten Blick unveränderbare Regeln setzen uns einen engen Rahmen und doch fühlen wir uns frei. Jedoch nur in diesem Rahmen. Er gibt uns Sicherheit, lässt uns aber auch gleichzeitig schnell eine gewisse Unsicherheit spüren, kommt man seinen Grenzen näher.
Aber wer gibt uns diese Regeln, diesen Rahmen vor? Alle und niemand.
8 Stunden schlafen, 8 Stunden arbeiten, 8 Stunden konsumieren. Die Aufteilung der Stunden kann etwas variieren. Nur eines darf auf keinen Fall passieren…Es darf keine Ruhe einkehren, denn sie ist gefährlich. Abseits der Regenerationszeit im Schlaf lieben und suchen wir das „Laute“. Die Außenwelt muss unsere innere Lautstärke übertönen.

Eine relative Planungssicherheit ist notwendig um den Lärmpegel hoch zu halten. Sind wir dann doch mal gedanklich in der Gegenwart angekommen, lenken wir uns anderweitig ab. Konsum und Arbeit.
Dieses Schema existiert jedoch gerade nicht. Die wenigsten Menschen können aktuell in eine halbwegs gesicherte Zukunft schauen. Kurzarbeit, gepaart mit massiven finanziellen Einschränkungen, und kein Ziel vor Augen. Der Konsum und die Ablenkungsmöglichkeiten sind stark limitiert. Es kehrt also in gewisser Weise Ruhe ein und wie wir wissen, ist Ruhe gefährlich, sie kann erdrückend sein. Die Außenwelt übertönt gerade nicht mehr so deutlich unsere innere Lautstärke.

Wie ist es für dich mal nichts zu machen? Fernseher aus, keine Musik, kein Handy, niemand redet. Sei einfach nur. Hältst du es aus? Nichts planen, keine Außenwelt, nur du und deine tiefsten Gedanken.
– Wer bin ich? Warum bin ich so wie ich bin? Was will ich? –
Hast du dir diese Fragen schon mal gestellt?

So schwer es aktuell durch den Lockdown auch ist, und ich möchte keinesfalls irgendwelche persönlichen Schicksale kleinreden, so kann man in der jetzigen Situation auch eine Chance sehen. Unser Leben wurde stark entschleunigt. Viele Menschen sehen das als Problem an und warten sehnsüchtig auf die alte Normalität und genau das ist das eigentliche Problem. Wir wollen keine Ruhe.
Wir wollen uns endlich wieder mit dem Job beschäftigen, dem nächsten Urlaub und den vielfältigen Möglichkeiten wie wir unser Geld ausgeben können. Aber wir wollen uns nicht mit uns selbst beschäftigen, mit den Dingen, die sich über lange Zeiträume angestaut haben, die Traumata, die uns zu den Menschen gemacht haben, die wir heute sind.

Derzeit sind wir gezwungen von Woche zu Woche zu schauen, ja fast schon von Tag zu Tag. Das sind wir nicht gewohnt. Wir haben verlernt die Gegenwart zu genießen, im Hier und Jetzt zu leben. Unser Inneres kämpft mit der Vergangenheit und wird abgespalten, während der Kopf in der Gegenwart die Zukunft plant. Da ist wenig Platz für Gefühle, eher für Kälte. Uns fehlt ein gesundes Maß und Verständnis für uns selbst.

Jegliche Störgeräusche von außen müssen erstmal verstummen, um in der Lage zu sein, sein Innerstes zu hören. Bist du an dem Punkt angekommen, wird ein Sturm aufziehen. Es wird alles hochkommen, was jahrelang unterdrückt wurde. Hast du den Sturm überstanden, kannst du endlich die Ruhe ertragen und schätzen. Du kannst Veränderung schaffen, für dich und für die traumatisierte Welt in der wir leben. Sie hat es nötig.
Jeder einzelne Mensch muss die einengende Ruhe und den darauf folgenden Sturm durchleben, um die friedliche und befreiende Ruhe zu finden…um  Verbundenheit zu spüren. Die Außenwelt muss endlich Platz machen für das Innenleben. Nur so kann das innere Kind gehört werden und nur so kann viel Leid verschwinden.
Wir brauchen eine andere Welt, in vielerlei Hinsicht.

2. Februar 2021 Gesellschaftskritik