Hochsensibilität – Wenn Reize zur Qual werden

Gastbeitrag von Marcel Klemm

Was ist Hochsensibilität?
Hochsensibilität ist keine Krankheit, wie man vielleicht vermuten mag, vielmehr kann man es als Persönlichkeitsmerkmal bezeichnen. Eine Hochsensibilität kann aber beispielsweise Krankheiten wie Angststörungen oder Depressionen hervorrufen. Darüber aber später mehr.

1913 das erste Mal durch den bekannten Psychologen C.G. Jung erwähnt, beschrieb er, dass einige Menschen Umweltreize sensibler wahrnehmen und diese emotional tiefer verarbeiten. Erst 1995 widmete sich allerdings die Wissenschaftlerin Elaine Aron wieder der Symptomatik und stellte fest, dass es eine bestimmte Personengruppe gibt, welche extrem hochsensibel oder gar hypersensibel auf verschiedene Reize und Trigger reagiert. Sie stellte einen Fragenkatalog mit 60 Fragen zusammen, um so Hochsensibilität und den ausgeprägten Grad zu erkennen. Dieser wurde in den vergangen Jahren mehrfach überarbeitet, verbessert und auch für Kinder angepasst.
Auch vermutet man, dass das bekannte AD(H)-Syndrom hier eine Rolle spielt.

Man schätzt, dass etwa jeder siebte Mensch hochsensibel ist. Dabei gibt es verschieden starke Ausprägungen. Wenn man es nicht schon weiß, ist der HSP-Test (High Sensitive Person) eine gute Möglichkeit herauszufinden, ob und zu welchem Grad man hochsensibel ist. Er misst die Sensibilität für innere und äußere Reize, sowie das Vermögen Informationen und Eindrücke hinreichend filtern zu können. Diesen findet man auf psychomeda.de unter Online-Tests.

Bei diesem Test wird zwischen 3 Typen unterschieden:
– Typ 1 – sensibel ausgeglichen
– Typ 2 – sensibel erregbar
– Typ 3 – sensibel schutzlos

Jeder Typ wird mit einer Prozentzahl angegeben. Bei mir sind diese Typ 1 69%, Typ 2 100% und Typ 3 100%, was im Umkehrschluss aussagt, dass ich hypersensibel bin.
Was sagt das nun aus?

Körperliche Merkmale sind etwa:

– sich schnell überfordert fühlen und flüchten wollen (häufig auch im Zusammenhang mit anderen Menschen)
– Geräusche viel intensiver wahrnehmen (Lärmepfindlichkeit)
– ausgeprägte Lichtempfindlichkeit (zu helles Licht, zu helles Display,…)
– stärkere Wahrnehmung von Gerüchen, Dämpfen, Staub, Rauch,…
– besseres Sehen (Peripheres Sehen)
– geringere Stressresistenz und Resilienz
– geringere Belastbarkeit (schnellere und häufigere Erschöpfung)
– Angstzustände
– negative Emotionen werden deutlich stärker empfunden, was das Risiko erhöht in eine Depression zu fallen
– intensivere Schmerzwahrnehmung
– Überinterpretation von Mimiken, Gestiken und Gesagtem
– Phasen von Weltschmerz
– erhöhte sexuelle Reizbarkeit

Die Anzahl der Reize wird sehr häufig zu viel und man zieht sich zurück. Dies führt sehr häufig zu Missverständnissen und damit verbunden sehr stressigen Situationen, da in den meisten Fällen der Gegenüber kein Verständnis dafür hat, was wiederum dazu führt, dass viele hochsensible Menschen nur wenige Kontakte haben, um diesen Situationen aus dem Weg zu gehen und sie zu vermeiden. War man in der einen Sekunde noch total gut gelaunt, beginnt man diese zu hinterfragen, was dann zu teils unendlichen Gedankenketten führt, die man nur schwer stoppen kann und schnell zu depressiven Stimmungen führen können.
Es gibt gute Tage, wo das etwas besser funktioniert und schlechte Tage, an denen man nicht vor die Tür möchte.

Hinzu kommt, dass es bestimmte visuelle Reize oder Geräusche gibt, die eine plötzliche und für viele andere unverständliche Aggression hervorrufen. Bestimmte Töne und Frequenzen, die für andere total normal sind, können nicht ertragen werden.
Leider geht mit den Reaktionen auf die Überstimulierung oft Ablehnung einher. Häufig hört man dann Sätze wie „Was hast du denn?“ oder „Das ist doch nicht so schlimm!“ oder „Jetzt hab dich mal nicht so!“, welche in diesen Situationen aber völlig fehl am Platz sind, da die betreffende Person eher Zuspruch und Verständnis bräuchte und unter den Umständen leidet. Diese Reaktionen können zu teils schweren depressiven Zuständen, gar Suizid(gedanken) führen.

Damit verbunden ist bei Betroffenen auch ein Leidensdruck, da man sich sehr häufig missverstanden und allein gelassen fühlt. Dies führt auch zu Isolation, da man sich selbst einredet, dass man nicht normal ist, so die eigene Wahrnehmung verloren geht und man so leichter Depressionen, Burn-out oder andere Krankheiten bekommen kann.

Für hochsensible Menschen sind Beziehungen und Verbindungen sehr wichtig, sie müssen spüren können, dass sie gebraucht und geschätzt werden. Insbesondere das Gefühl wirklich und aufrichtig gebraucht zu werden ist essentiell. Sie haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Stabilität. Ablehnung führt zu einem inneren Konflikt mit sich selbst.
Auch in Partnerschaften ist Hochsensibilität ein großes Thema, fordert es doch vom Partner ein hohes Maß an Verständnis für den hochsensiblen Gegenüber. Sind sich beide dessen bewusst, steht auch mit Hochsensibilität einer langen, glücklichen Partnerschaft nichts entgegen.

Einige soziale Merkmale sind:

  • sich anderen stärker verbunden fühlen als umgekehrt und zu schnell zu viel von sich preisgeben
  • Befindlichkeiten und Störungen von anderen intensiv wahrnehmen
  • Gutgläubigkeit (immer an das Gute im Menschen glauben, trotz vieler Enttäuschungen)
  • die eigenen Bedürfnisse denen anderer unterordnen
  • sich im Konfliktfall zurückziehen (Harmoniebedürfnis, ein Konflikt ist ein Reiz)
  • schnelles Gefühl der Überforderung
  • die Gefühle anderer wahrnehmen und dadurch beeinflusst werden
  • unter Beobachtung bei Aufgaben oder Prüfungen schlechter abschneiden
  • sich nicht gut abgrenzen können
  • sich durch Veränderungen durcheinander fühlen
  • Extraversion bzw. Extraversiertheit
  • stark ausgeprägte Emotionalität und Empathie („nah am Wasser gebaut sein“)
  • Ablehnung jeglicher Ungerechtigkeiten
  • Probleme bei der Anpassungsfähigkeit

 

Woher kommt Hochsensibilität?
Darüber gibt es noch keine gesicherten Erkenntnisse. Man geht davon aus, dass die Reizverarbeitung im Gehirn gestört ist, zusätzlich noch von einer höheren Erregbarkeit des Gehirns. Es muss viel mehr Reize filtern als es in der Lage ist.
Vermutlich werden hier durch Anomalien im Gehirn weniger Neurotransmitter produziert, die für die Reizverarbeitung wichtig sind, was dazu führt, dass bestimme Reize einfach nicht verarbeitet werden können, da wichtige nicht von unwichtigen unterschieden werden können und demnach schnell zu viel werden. Dies beeinflusst auch die allgemeine Aufmerksamkeit. Da der Körper mehr Reize aufnehmen muss als er verarbeiten kann, neigen hochsensible Menschen eher zu Ermüdung und Erschöpfung. Dadurch benötigen sie mehr Erholungsphasen, welche häufig wiederum mit Ablehnung quittiert werden. Man spricht von einer multifaktoriellen Genese, was einfacher ausgedrückt bedeutet, dass viele Faktoren eine Rolle spielen können.
Man untersucht unter anderem, ob sie vererbbar ist. Dafür werden aktuell weltweit mehrere Studien durchgeführt. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass Hochsensibilität durch bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen beeinflusst und verstärkt werden kann, wie zum Beispiel Gewalt und/oder Mobbing. Entscheidend ist auch, wie das eigene Elternhaus wahrgenommen wurde. Etwa 50% wachsen in Familien auf, deren Bindungsmuster als unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent und/oder unsicher-desorganisiert gelten.
Hierbei neigen hochsensible Kinder dazu, sich an ihre Bezugspersonen anzupassen und alles zu tun, um diesen gerecht zu werden, verlieren dabei aber ihre eigentlichen Werte und Bedürfnisse. Diese führen dann ein Leben im „Untergrund“ und treten zum Beispiel als Ängste (Verlustangst) oder geringe Selbstliebe in Erscheinung. Es ist kontraproduktiv bei auftretenden Symptomen mit ihnen zu schimpfen, da das die Symptomatik nur verstärkt. Sie benötigen hier viel Zuspruch.

Burn-out und Erschöpfungszustände sind bei hochsensiblen Menschen deutlich häufiger. Die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol ist bei diesen teilweise dreimal so hoch, wie bei normalen Menschen, man befindet sich also sehr häufig im Dauerstresszustand und kann diesen nur schwer regulieren, denn sie müssten ja teilweise das dreifache an Stress verarbeiten. Folge sind häufig Migräne, Herzrasen, Tinnitus, Rückenschmerzen et cetera.
Diesen Stress sollte man soweit es geht lindern, beispielsweise durch Atementspannung, Meditation, ein entspannendes Bad, ausreichend Schlaf, Sport, Kunst oder diverse Klopftechniken. Hier setzen auch die Therapien an, um im Alltag mit Reizen besser klar zu kommen und eine Reizüberflutung zu vermeiden. Nach jetzigem Stand kann eine Hochsensibilität nicht verschwinden.

Hochsensible Menschen sind trotz ihrer für andere teils unverständlichen Reaktionen aber trotzdem liebenswerte Menschen und meinen es, auch wenn andere das häufig nicht so sehen, nie böse. Das Unverständnis der anderen macht es noch schlimmer. Selbst wenn man es ihnen erklärt, wollen viele es gar nicht verstehen, weil es ihnen eben nicht so geht und man dann schnell abgestempelt wird.
Man kann die Hochsensibilität aber auch zu seinem Vorteil nutzen. So haben viele hochsensible Menschen beispielsweise eine oder mehrere der folgenden Eigenschaften:

  • sich gut konzentrieren können (bei positiv behafteten Dingen)
  • eine ausgeprägte Intuition
  • schnellere und bessere Reaktionsfähigkeit, da man sich ständig in „Alarmbereitschaft“ befindet
  • eine hohe Reflexionsfähigkeit
  • ein ausgeprägter(er) Gerechtigkeitssinn
  • gute Feinmotorik
  • visuelle und akustische Reize differenzierter wahrnehmen
  • Kälte oder Wärme differenzierter wahrnehmen
  • Zusammenhänge schneller und besser erkennen, sowie gedankliche Querverbindungen herstellen
  • gut zuhören können
  • sehr gewissenhaft und genau arbeiten
  • ausgeprägte Lernfähigkeit auch im hohen Alter
  • Glück kann intensiver empfunden werden, ist dafür aber seltener

 

Auch Perfektionismus und stark ausgeprägte Gewissenhaftigkeit sind sehr verbreitet, weil man sich und den anderen beweisen will, dass man es doch kann und es deswegen noch besser als die anderen machen will, was auch wieder zu mehr Druck und erhöhtem Stress führt. Man befindet sich also in einer Spirale, aus der man nur noch schwer herauskommt.

Diesen Artikel zu schreiben hat mich als hypersensiblen Mensch sehr aufgewühlt, da man auch mit den eigenen „Schwächen“ konfrontiert wird, was nicht immer einfach ist. Ich finde es aber wichtig über dieses Thema aufzuklären und zu sensibilisieren, damit mehr Menschen besser damit umgehen und hochsensible Menschen besser verstanden werden können.

 

 

2. März 2021 Gastbeiträge