Die austauschbare Angst

Ein Leben ohne die Furcht vor einem Feind, den es zu bekämpfen gilt, scheint schwer vorstellbar. Aber brauchen wir das wirklich? Oder doch eher die Medien? Oder die Politik?
Regelmäßig wird uns ein Orientierungspunkt präsentiert, dem unsere volle Aufmerksamkeit gelten soll, der für die größtmögliche Beschäftigung unserer Köpfe zu sorgen hat.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der damit verbundenen Beilegung des Kalten Krieges, ging uns ein konstanter Gegner verloren, ein Angstmacher, an dem man sich über Jahrzehnte abarbeiten konnte. Die entstandene Lücke sollte aber nicht unausgefüllt bleiben.
In den letzten 22 Jahren gab es einen regelmäßigen Lückenfüllerwechsel und immer wurde die Angst vor dem neuen Bösen bewusst genutzt um einerseits Politik zu machen, und andererseits, von Medienseite her, um mit bedrohlichen Schlagzeilen Geld zu verdienen.

Der sich ständig wiederholende Kampf gegen das Böse

Mit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 begann eine neue Epoche. Die Angst vor dem (islamistischen) Terror war allgegenwertig. Das erste Feindbild dieser Zeit war Afghanistan, mit der Terrororganisation al-Qaida und dessen Anführer Osama bin Laden. Ab 2003 dann die Ablösung durch den Irak mit dessen Staatsoberhaupt Saddam Hussein. Nach dessen Sturz blickte man wieder ausschließlich auf bin Laden. 2011 folgte dann Libyen mit Muammar al-Gaddafi und danach, im selben Jahr, richtete sich der Fokus auf Syrien mit Staatsoberhaupt  Baschar al-Assad.
Jeder dieser Männer war zum gegebenen Zeitpunkt DER Feind, den es zu besiegen galt, möchte man den „Kampf gegen den Terror“ gewinnen. Jedes einzelne dieser Länder wurde bombardiert und bis auf Assad, wurde jeder Gegner eliminiert. Dem Ziel, den internationalen Terror endgültig zu beenden, kam man jedoch nie einen Schritt näher.
Ab 2013 ging es dann weg von Einzelpersonen bzw. Staaten, der Feind wurde in Form des IS immer weniger greifbar – und war somit unbesiegbar? Es vergingen viele Jahre, in denen hinter gefühlt jedem Messerangriff auf europäischem Boden ein islamistischer Hintergrund vermutet und jede Gewalttat eines bärtigen Mannes als Terroranschlag deklariert wurde.

Seit Anfang des Jahres 2020 hört man von al-Qaida nichts mehr, ebenso wenig wie vom IS oder von Assad. All diese Namen, die jahrelang für DAS Böse in dieser Welt standen, waren plötzlich uninteressant. Der „Kampf gegen den Terror“ wurde definitiv nicht gewonnen, aber nun war der Feind ein anderer – ein Virus. Noch schwieriger zu greifen als eine über mehrere Länder verteilte Terrororganisation, schien dieser Kampf ein endloser zu werden. Dachte man. Mit dem zu verurteilenden Angriff Anfang 2022 auf die Ukraine wurde das Kapitel Covid-19 komplett abgeschlossen. Kein al-Qaida, kein IS, kein Assad, kein Corona. Putin und Russland sind nun dran, auch wenn es nur eine Frage der Zeit ist, bis der nächste Wechsel stattfindet und der einstige Feind in Vergessenheit gerät.

Ein erfolgreiches Zusammenspiel

Es ist zu beobachten, wie Medien und Politik in einer gut orchestrierten wechselseitigen Beeinflussung die Themen, die aktuelle Angst und die dazugehörige Meinung vorgeben. Einen alleinigen Taktgeber gibt es nicht. Für Medien und Politik ist die eine Thematik abgeschlossen, sobald die nächste an der Tür klopft. Inwieweit die alte auch inhaltlich abgearbeitet ist, spielt keine wesentliche Rolle. Der Fokus ist stets beschränkt auf einen zu bekämpfenden Gegner, der im Regelfall personifiziert wird, gleichzeitig aber auch unbesiegbar scheint. Terrorismus wird immer in verschiedenen Formen existieren, Corona verschwindet nicht mehr und Russland lässt sich glücklicherweise auch nicht von der Weltkarte entfernen. Wichtig ist nur, dass sich ein neuer Feind findet.
Lauscht man den Stimmen der Politik und liest man die Artikel der Medienschaffenden, sollte man nicht den Fehler machen und auf sachkundige Beurteilungen hoffen, sondern sich eher auf simple Meinungsmache einstellen. In der Politik redet niemand mehr über den IS oder Assad, weil es medial auch nicht mehr verarbeitet wird. In den journalistischen Erzeugnissen liest man nichts mehr über al-Qaida oder Corona, weil es in der Politik keine Rolle mehr spielt. Die Abhängigkeit ist nicht zu übersehen.

Was ist nochmal die aktuelle Angst?

Möchte man ein ruhiges und freies Leben, sollte diese Frage unbeantwortet bleiben oder am besten gar nicht erst auftauchen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass jede dieser von außen erzeugten Ängste ihr Verfallsdatum hat. Also warum heute X als Feind sehen, wenn übermorgen Y in den Fokus gerückt wird? Nur weil ein Thema eine große Medienpräsenz genießt, ist das nicht zwangsläufig ein Indikator für eine hohe Wichtigkeit. Heute hat niemand mehr Angst vor islamistischem Terrorismus oder einem Virus, obwohl uns lange Zeit diese Angst eingeredet wurde. Wir dürfen nicht immer wieder auf den selben Trick reinfallen und müssen in Zukunft verhindern, dass man uns von außen in einem dauerhaften Stresszustand gefangen hält.

9. Juni 2023 Politik